#2/23

Stellungnahme des BRA zu der Frage, ob sich eine erweiterte Aussetzungsmöglichkeit nach § 148 ZPO auch in der Arbeitsgerichtsbarkeit empfiehlt
 
Praxisumfrage: Effiziente Bearbeitung arbeitsgerichtlicher “Massenverfahren” / Erweiterte Aussetzungsmöglichkeiten bei Parallelverfahren



1. Bestandsaufnahme

In der betrieblichen Praxis des Arbeitsgerichtsprozesses treten Fälle von Massenverfahren durchaus auf, auch wenn diese zahlenmäßig deutlich hinter entsprechenden Konstellationen in der ordentlichen Justiz liegen dürften.

In jüngerer Zeit gab es etwa eine Vielzahl von Klagen von Arbeitnehmern, die Nachtarbeitszuschläge eingefordert haben (vgl. z.B. BAG 10.11.2021 - 10 AZR261/20 - NZA 2022, 707). Durch die Änderung der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts sahen es viele Gewerkschaften als erforderlich an, ihren Mitgliedern fristwahrend zu Klagen vor den Arbeitsgerichten zu raten.

Ein anderes Beispiel eines Massenverfahrens sind auch die Klagen von Piloten, die sich bei einem Flugverkehrsbetrieb gegen die Verpflichtung zur Rückzahlung von Ausbildungskosten gewandt haben (Hess. LAG 09.06.2022 - 11 Sa 1558/21 - Juris). Hier kam es auf eine Auslegung von AGB-Klauseln an, die unternehmensweit verwendet worden sind.

Vor ein paar Jahren haben eine Vielzahl von Arbeitgebern in den Verfahren mit der Urlaubs- und Lohnausgleichkasse im Baugewerbe eingewandt, dass die in dem Sozialkassenverfahrensicherungsgesetz (SokaSiG) enthaltene Rückwirkung unzulässig sei.

Aus der Praxis wird auch von der Problematik von Massenverfahren in der betrieblichen Altersversorgung berichtet (Diller NZA 2022, 1105 mit eigenem Gesetzesvorschlag).

Zu solchen Massenverfahren liegen statistisch belastbare Zahlen nicht vor. Schätzungsweise können Verfahren mit einem vergleichbaren Streitgegenstand aber im dreistelligen Bereich jährlich landen.

2. Erforderlichkeit einer Neuregelung

Aus Sicht des BRA besteht daher durchaus ein Bedürfnis, eine erleichterte Aussetzungsmöglichkeit auch in der Arbeitsgerichtsbarkeit zu schaffen (ebenso Düwell BB 2023, 1912, 1915).

Für eine erleichterte Aussetzungsmöglichkeit spricht auch, dass die Entwicklung der Eingangszahlen im Hinblick auf Masseverfahren schwer zu prognostizieren ist. Der Einsatz von Legal Tech wird in naher Zukunft verstärkt in Rechtsanwaltskanzleien Einzug nehmen. Ziel der Anwälte hierbei ist, mit Unterstützung von moderner Informationstechnologie möglichst viele Prozesse anzustoßen. Hierdurch dürfte sich die Zahl der Masseverfahren in den eingangs genannten, aber auch anderen Bereichen merklich erhöhen. Um auf diesen Trend reagieren zu können, erscheint es erforderlich, den 3 Gerichten ein Mittel der Kanalisierung und der Fokussierung auf wesentliche Rechtsfragen an die Hand zu geben. Dies würde der Entlastung der Gerichte und der Prozessökonomie dienen.

Eine Erweiterung der Aussetzungsmöglichkeiten erschiene hier ein geeignetes Mittel und wäre auch systemkonform. Das Bundesarbeitsgericht zieht bereits jetzt § 148 ZPO analog heran, soweit eine vorgreifliche Rechtsfrage bei dem Bundesverfassungsgericht (BAG 10.09.2020 - 6 AZR 136/19 [A] - EzA § 148 ZPO 2002 Nr. 3) oder dem EuGH anhängig ist (BAG 28.07.2021 - 10 AZR 397/29 [A] - EzA § 148 ZPO 2002 Nr. 4).

3. Mögliche Eckpunkte einer Regelung

Im Arbeitsgerichtsprozess gilt im Interesse des Arbeitnehmerschutzes nach § 9 Abs. 1 ArbGG ein besonderer Beschleunigungsgrundsatz. Dieser Grundsatz steht prinzipiell einer erleichterten Aussetzungsmöglichkeit entgegen. In Bestandsschutzstreitigkeiten hat der Gesetzgeber nach § 61a ArbGG eine besondere Prozessbeschleunigung vorgesehen. Vor diesem Hintergrund entspricht es der h.M., dass jedenfalls Kündigungsschutzschutzverfahren grundsätzlich nicht nach § 148 ZPO – z.B. im Hinblick auf eine weitere Kündigung, die ein früheres Beendigungsdatum vorsieht – ausgesetzt werden können (LAG Hamm 08.05.2020 - 12 Ta 317/20 - Juris). Um dieser Besonderheit Rechnung zu tragen, sollte eine neue Aussetzungsregelung Bestandsschutzstreitigkeiten ausnehmen.

Es erscheint dann sinnvoll, dass eine solche Regelung eine erleichterte Aussetzungsmöglichkeit auch schon für die erste Instanz vorsehen würde. Da gegen eine solche Entscheidung nach § 252 ZPO das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde statthaft wäre, könnten Fälle unangemessener Aussetzungen durch die Landesarbeitsgerichte korrigiert werden. Die Landesarbeitsgerichte hätten dann wiederum die Möglichkeit, zweifelhafte Fälle über eine zugelassene Rechtsbeschwerde nach § 574 ZPO durch das Bundesarbeitsgericht klären zu lassen.

Eine erleichterte Aussetzungsmöglichkeit sollte dabei ab einer Anzahl von 10 Fällen mit einem vergleichbaren Streitgegenstand in Betracht kommen. Eine Untergrenze erscheint sachgerecht, um den Beschleunigungsgrundsatz nur in wesentlichen Fällen einzuschränken.

Wann ein vergleichbarer Streitgegenstand gegeben ist, kann wohl nur durch eine generelle Formulierung umschrieben werden. Dies dürfte jedoch in der gerichtlichen Praxis kein Problem darstellen, da die Rechtsprechung in der Lage sein wird hierzu Konkretisierungen und Beispielsfällen herauszuarbeiten. Es dürfte nicht darauf ankommen, ob zumindest eine der Parteien identisch ist. In den Fällen der Nachtarbeitszuschläge waren unterschiedliche Arbeitnehmer und Arbeitgeber betroffen.

4. Vorschlag einer Neuregelung

§ 46 Abs. 3 ArbGG n.F. könnte wie folgt lauten:

§ 148 ZPO findet mit der Maßgabe Anwendung, dass eine Aussetzung auch dann in Betracht kommt, wenn sich bei einem im Wesentlichen gleichgelagerten Sachverhalt die gleichen oder im Wesentlichen gleiche Rechtsfragen stellen. Eine Aussetzung unterbleibt, wenn die Parallelverfahren die Anzahl von 10 nicht übersteigen. Satz 1 gilt nicht bei Bestandsschutzstreitigkeiten i.S.d. § 61a ArbGG. § 149 Abs. 2 ZPO findet entsprechende Anwendung.

Sollte der Gesetzgeber diesem Vorschlag nicht nähertreten wollen, spricht sich der BRA jedenfalls dafür aus, dass für die ordentliche Justiz geplante Leitentscheidungsverfahren beim Bundesgerichtshof (vgl. §§ 552 ZPO, 148 Abs. 4 ZPO) entsprechend beim Bundesarbeitsgericht auch in der Arbeitsgerichtsbarkeit einzuführen (vgl. Referentenentwurf des BMJ eines Gesetzes zur Einführung eines Leitentscheidungsverfahrens beim Bundesgerichtshof vom 14. Juni 2023). Dies würde die Instanzen erheblich entlasten.
 

 

Katja Bernhard                 Dr. Michael Horcher                   Dr. Martin Hejma